Die typografische Regel ist ein scheues Reh. Texte zur Typografie
Die These: Eine wesentliche Aktivität beim Lesen liegt in der Vorbereitung.
Lesen ist Arbeit, diese soll flüssig vonstatten gehen. Arbeit will vorbereitet werden –
will strukturiert, organisiert sein, damit sie auch zu Ende gehen kann. Wird Arbeit
geplant, nennt man das Arbeitsvorbereitung.
Man schlägt ein Buch auf, schaut die
ersten Seiten an. Dabei stellen sich die Fragen: Was ist los im Buch? Was steht wo? Was
muss ich zuerst lesen? Was kann warten? Was ist wichtig, was unwichtig? Was lese ich
linear, was muss ich studieren, vergleichen, nachschauen. Gibt es Verzeichnisse, wo muss
ich sie einbinden? Welche Elemente kommen vor: Tabellen, Grafiken, Marginalien? Die
typografischen Maßnahmen werden ermittelt. Die visuellen – typografischen – Reize werden
bestimmten semantischen Bedeutungen zugeordnet und abgespeichert. Man weiß nun, wie die
Überschrift aussieht oder dass ein Kolumnentitel zu erwarten ist.
Man lernt die
typografischen Maßnahmen und benutzt sie für spätere Prognosen: Nun erwartet man konkrete
Formen für konkrete semantische Textarten.
Dies ist der große Moment der Typografie. Hier wird sie gebraucht, wie sonst nicht beim Lesen. Das Ordnen, die Navigation, die Darstellung der Ebenen und Hierarchien machen aus der Inhaltsaufnahme einen komplexen, mehrdimensionalen Vorgang, der stark verdichtet ist. Verdichtung geschieht durch Typografie, vor allem durch typografische Figuren1. Diese sind visuelle Konventionen im Umgang mit Text. Bestimmte Textelemente werden inhaltlich zusammengefasst und als Gruppe visualisiert. Funktioniert diese Gruppe gut im Austausch der Informationen zwischen Autor und Leser, wird sie zur Konvention – es entwickelt sich eine typografische Figur. Typografische Figuren können allgemeines Kulturgut sein, wie Überschriften oder Fußnoten. Oder sie sind einem speziellen Kontext vorbehalten – Hinweise und Tipps in Handbüchern, Literaturverzeichnisse in wissenschaftlichen Texten, Spitzmarken in Lexika.
Unsere Schreibweise und damit unsere Textdarstellung beginnt links oben und endet rechts unten2. Die Zeichen folgen aufeinander. Ist die Zeile rechts zu Ende, beginnt links darunter eine neue. Auf eine Seite folgt eine neue. Die Folge der Zeichen unterliegen Orthografie und Grammatik. Wort und Satz bilden die inhaltliche Struktur. Zeile und Seite sind formale Strukturierungen, die dem Medium entstammen. Beim Lesen werden die Buchstaben der Zeilen und die Zeilen der Seiten aufgenommen – von links nach rechts und von oben nach unten. Dabei wird der Inhalt gelesen.
Zu Beginn werden Schrift, Schriftgröße, Zeilenlänge etc. wahrgenommen und analysiert. Die visuelle Erscheinung wird mit der Semantik des Textes in Einklang gebracht. Das Abbild der Seite wird zum Schlüssel und gespeichert. Jede neue Seite wird mit diesem Schlüssel verglichen. Findet sich keine wesentliche Veränderung im Vergleich zu diesem Bild, ist kein weiteres Engagement fürs Lesen nötig.
Mit wenig Struktur kommt der Roman aus. Einige sind mit Anfang und Ende genügend strukturiert, andere benötigen Zäsuren – Absätze oder auch Abschnitte. Stellen wir den Absatz durch einen Zeilenumbruch und den Abschnitt durch eine leere Zeile dar, entsteht eine hierarchische Struktur mit zwei Ebenen. Mehr oder weniger Weißraum zwischen den Zeilen wird als mehr oder weniger gewichtig eingestuft. Gibt man Kapitel dazu – indem man eine Überschrift einsetzt – befindet man sich in der dritten Ebene. Bis hierhin kommt der Text mit wenigen typografischen Elementen aus, die Struktur ist einfach und mit einem linearen Lesevorgang erfassbar.
Texte, die nicht ausschließlich linear gelesen werden sind z. B. Sach- und
wissenschaftliche Texte. Sie enthalten neben oft umfangreicher Gliederung eine Vielzahl
semantischer Textelemente und typografischer Figuren. Damit gibt es einerseits die
hierarchische Struktur, durch Überschriften gekennzeichnet und gleichzeitig eine
Parallelstruktur – da diese Elemente in jeder Ebene vorkommen können. In dieser
Parallelstruktur wechselt man aus dem Text heraus in die typografische Figur. Zuerst, um
den allgemeinen Aufbau und den Zusammenhang zum Text zu erfahren. Anschließend werden
gezielt Antworten auf Fragen gesucht, respektive gefunden. Das kann zu einem häufigen
Wechsel zwischen Text und Element führen.
Dieser Wechsel hat zwei Richtungen: der
Sprung vom Text in die Figur und der Weg zurück. Beide müssen gelingen. Dazu muss er
leicht von der Hand gehen, flüssig sein.
Die Tabelle enthält Informationen, die mittels Zeilen und Spalten strukturiert sind. Sie wird nicht linear gelesen. Der Leser folgt seinen Absichten, die nach Patricia Wright3 so umschrieben werden können: Suchen und Ablesen einzelner Informationen, Entwicklung eines allgemeinen Informationsbildes und Vergleich verschiedener Informationen der Tabelle. Die Marginalie ist ein sehr kurzer Text neben der Absatzstelle, auf den sie sich bezieht. Sie kann Inhalt wiederholen – zum repetieren auffordern, dann liest man sie von innen heraus. Sie erfüllt gliedernde Aufgaben, enthält dann strukturierenden Text und wird nun von außen gelesen. Oder sie stellt einen Ort für spezielle Textgruppen dar: Fußnoten, Lesehinweise, Beschriftungen. Dann enthält sie Zusatztexte und weist aus dem Text heraus in ganz andere Welten.
Lesen ist so verschieden, wie die Textelemente es erfordern. Das Lesen eines Textes mit
komplexer Textstruktur ist eine ebenso komplexe, vielschichtige Angelegenheit. Indem die
Textelemente typografisch regelgerecht visualisiert werden, entstehen Hinweise und
Informationen auf der Metaebene – ebenso regelgerecht. Sie erzählen um welche Textgruppe
es sich handelt und wo sich welche Elemente befinden. Der Leser erfährt, mit welcher
Lesemethode er sich dieses Stück Text aneignen kann und er kann sich – resp. seinen
Leseprozess – mit diesem Wissen organisieren im Sinne einer Lesevorbereitung. Er kann
entscheiden, was er auf einer Seite zuerst liest, wann er die Tabelle einbindet – ob jetzt
oder später.
Je komplexer der Text, desto umfangreicher das nötige Regelwerk für
die Visualisierung der einzelnen Textanforderung und desto umfangreicher der typografische
Maßnahmenkatalog. Der Katalog muss vom Leser überschaut werden können, muss sich ihm
erschließen, so dass er in der Lage ist, die nötigen Schlüsselbilder anzulegen. Nur wenn
er in der Lage ist, dies zu tun und wenn die Bilder in der Folge als Schlüssel wirklich
dienlich sind, kann die Typografie nützlich und hilfreich sein.
Also muss der
Maßnahmenkatalog komplex sein, um den Text beschreiben zu können und er muss gleichzeitig
schlicht sein, damit die Typografie ihren Dienst erweisen kann.
Der Leser braucht eine gesicherte typografische Umgebung, die Botschaften müssen
eindeutig sein. Man könnte das als typografische Binsenweisheit betrachten, gäbe es nicht
die Schwierigkeit in komplexen Texten eine solche gesicherte Umgebung zu visualisieren.
Jede Zweideutigkeit ist Unsicherheit, die der Leser mit dem Inhalt auskämpft. Der
Nachteil dieser Unsicherheit lässt sich gut nachvollziehen an Texten der
Wissensvermittlung, die präzisen didaktischen Anforderungen genügen müssen. Der Leser ist
gefordert, in Lernprozesse einzusteigen. Er lernt am Text und eignet sich über das Lesen
Wissen an, das er in einer Prüfung nachweisen muss. Das bedeutet, er benötigt all seine
Energie und Kraft für die Aufnahme des Wissens. Jede Verunsicherung kostet Energie und das
geht zulasten der Aufnahmekapazität. Unklarheiten lassen sich nicht lernen.
1 Vgl. dazu Borinski, U. (2012, November 25). Frau
Borinski und die Typografie: Die typografische Figur. In Frau Borinski und die Typografie.
Abgerufen 07.02.2015, http://www.frauborinski.de/TypoFiguren.html
2 Gemeint ist das lateinische Schriftsystem mit
rechtsläufiger, waagerechter Schreibrichtung. Andere Schriftsysteme haben andere
Richtungen. Dies lasse ich, ebenso wie Sakkaden und andere Augenbewegungen außer acht.
3 Vergleiche dazu: Wright, P. (1984). Die Funktion
bestimmt die Struktur bei der Gestaltung von Tabellen in technischer Literatur. In
Didaktische Typografie (1st ed., pp. 240–248). Leipzig.